Satt

Bild gemalt von Jasmin Zabler
Bild gemalt von Jasmin Zabler

Heute mache ich rot.

 

Ich quetsche Meeresschnecken aus und zerreibe Schildläuse. Rot ist anstrengend. Wenn ich rot trage, bin ich attraktiv. Menschen mögen attraktive Menschen.

 

Ich stelle mich neben Grün, das hofft; neben Gelb, das falsch ist und neben Schwarz, das traurig ist.

 

Rot ist Liebe. Rot leuchtet. Ich leuchte. Alle wollen ein Date mit mir. Alle wollen ein Date mit Rot. Sie bekommen es. Werden nicht satt, obwohl Farben das können: Satt sein.

 

Grün, Gelb und Schwarz wollen meine rote Vitalität. Ich gebe, bis ich verblasse. Den letzten Schrei in lila möchte ich nicht ausstoßen. Pause. Alle fragen, was ich morgen mache.

 

Morgen mache ich blau.



Dahinter

Im Winter sind wir Freunde. Ich besuche sie jeden Morgen. Schaue durch ihr Fenster, sehe sie am Küchentisch sitzend ihre Teetasse umklammern, als wollte sie die Welt festhalten. Sie braucht kein Koffein, um wach zu werden. Niemals könnte sie ein Wesen sein, das Winterschlaf hält. Ich betrachte sie eine Weile. Sie trinkt vom Winter.

Wenn sie aus dem Haus kommt, bilde ich eine Bank. Sie setzt sich und nimmt eine Morgendusche. Sie ist eine Frau, der Kälte nichts anhaben kann. Erfrischt geht sie wieder hinein, stellt ihre Tasse in die Spüle und wandert durch ihre Welten.

Im Schlafraum stehen die Fenster weit offen. Ihre Bettdecke hängt halb innen, halb außen. Von Zeit zu Zeit dreht sie sie, damit ich meine Feuchtigkeit gleichmäßig verteilen kann. Meine Schwere wird sie nachts im Liegen halten. Sie ist eine Frau, die Unbeweglichkeit kaum ertragen kann.

Im Arbeitsraum streichelt sie mit dem Staubwedel ihren Schreibtisch, den Stuhl und das Bücherregal. Wedelnd verabschiedet sie den aufgewirbelten Schmutz in den Morgen. Ich schlucke ihn, und sie verschließt die Fenster. Über Tag werden sich neue Spuren ihres Denkens in den Möbeln verfangen und die Nacht über bleiben dürfen. Sie ist eine Frau, die ihr Leben an Rituale gebunden hat. Doch heute schaut sie, als sei das Band zu fest gebunden. Sie kommt vor die Tür und sieht hinauf – sehnsüchtig.

    „Uns unterscheidet nichts“, will ich ihr sagen. „Ich biete dir Bodenkontakt.“ Mehr kann ich nicht tun, meine Zeit für heute ist vorbei und die Hoffnung bleibt, sie morgen wiederzusehen.


Kehrwoche

Donnerstag. Der Bote legte mir die Zeit vor die Tür. Heute war es windig, die Buchstaben fielen heraus. Schnell suchte er sie zusammen, doch sie ergaben keinen Sinn mehr. Error statt Terror. Der Bote machte sich einen Spaß daraus und kehrte die schlechten Wörter unter die Fußmatte.

 

Ich ärgerte mich, weil die Zeit heute so dünn war. Dann las ich: Das Ozonloch war zu, die Arbeitslosenquote lag bei null Prozent, der Weltfrieden war erreicht. Das las ich noch einmal, noch einmal und noch einmal.

 

Donnerstag war Kehrwochentag. Der Hausmeister klingelte und zeigte mir den Dreck vor meiner Tür. Das konnte mich nicht schrecken, ich hatte mir hervorragende Laune angelesen. „Diese Buchstaben sind aus der Zeit gefallen“, sagte er und streckte mir die Kehrschaufel entgegen. „Ich werde sie entsorgen“, sagte ich. Nachdem der Hausmeister gegangen war, kehrte ich das L, das Ü, das G und das E zu den anderen unter die Fußmatte. Die Kehrschaufel legte ich dem Hausmeister vor die Tür.