Bett 29


(c) Klaus Eppele
(c) Klaus Eppele

„Bett 29, schweres SHT mit nachfolgender retrograder Amnesie, sekundärem Intubationsgranulom …"

 

Ich höre nicht weiter zu, denn Hören und Begreifen gehen nicht konform. Ich unterrichte Deutsch und Englisch am Gymnasium, doch das hilft mir nicht weiter. Nicht hier, wo ich statt eines Namens Bett 29 bin. Ich warte auf das Ende der wöchentlichen Chefvisite, darauf, dass mir Papier und Bleistift gereicht werden, um zu testen, ob ich mein Gedächtnis inzwischen wiedererlangt habe. Ich strenge mich nicht mehr an, kringele undefinierbare Formen auf das Papier, um mir dann anzuhören, dass man mich nicht ewig hier behalten könne.

 

„Gesundheitsreform, wissen Sie?“ Ihr Vorwurf bleibt im Raum hängen, wie Zigarettenqualm in Gardinen.

 

Weiß ich. Ich weiß bescheid: Sommerferien. Ich verlasse Thomas. Ohne Grund. Ich packe, verschließe die Midlifecrisis im Koffer, den Koffer im Kofferraum. Dann fahre ich los, überschlage mich, sause die Böschung hinab. Ich erwache im Krankenhaus. Ein Wunder, aber nicht wunderbar. Mein vorheriges Leben verbrannt im Auto, und keiner, der mich vermisst. Ich habe meinen Weggang im Freundeskreis angekündigt. In zwei Wochen sind die Ferien um. Seit vier Wochen bin ich Bett 29.

 

Mein neues Leben erstrahlt in sterilem Weiß. Will ich jetzt lieber in das vergangene Schwarz-Weiß zurück? Ich schmecke ein salziges Rinnsal, das aus meinen sehschwachen Augen treibt, unterdrücke es wieder, als die Tür geöffnet wird.

 

„An Ihrer Stelle würde ich auch weinen!“, sagt die Schwesternschülerin mitfühlend und erklärt mir, dass ich nicht sprechen kann, weil der Beatmungsschlauch bei der Narkose meine Stimmbänder verletzt hat.

 

„Machen Sie sich keine Sorgen, bald werden Sie wieder sprechen können!“

 

Bald? Vier Buchstaben, so dehnbar wie ein Gummiband für das alberne Gehopse beim Gummitwist.

 

Das junge Mädchen versteht.

 

„Ich weiß, dass Sie schreiben können“, sagt sie und reicht mir das Werkzeug. Dieses Mal keine ungewaschene Chirurgenhand, sondern zarte, lebendige Menschenhand. Ich tränke das Papier mit weiteren Tränen anstatt mit sinnvollen Worten, die in meinem Kopf längst der Monotonie der Wiederholung anheim gefallen sind.

 

„Ich weiß noch nicht viel, ich habe die Ausbildung erst im Frühjahr begonnen“, erklärt sie mir. Dann nimmt sie ihre Brille ab.

 

„Vielleicht sehen Sie damit genug“, sagt sie und sogleich erblicke ich ihr Strahlen.

 

Die Hände zittern immer noch, als ich „Danke!!!“, schreibe, aber ich sehe, das erleichtert das Mitteilen.

 

„Da steckst du also!“, schimpft eine ältere Schwester. „Mach dich gefälligst nützlich und leere die Wäschesäcke, bevor der Nachtdienst kommt!“

 

 

Ich leere mein Gehirn, indem ich schreibe, schreibe, schreibe.


Infos zum Text

"Bett 29" - Kurzgeschichte

 

Gewinn im Schreibwettbewerb „Wendepunkte“ dieGesellschafter.de

 

erschienen in:

Durch Tag und Nacht: Geschichten über Augenblicke der Nähe - eine Anthologie

 

Herausgegeben von Heike Zirden, ZWEITAUSENDEINS, Frankfurt am Main, 2009, ISBN 978-3-86150-899-1


 

Einzelveröffentlichung in:

 

allmende, Zeitschrift für Literatur

 

Info Verlag, Ausgabe No. 83, Juni 2009, ISBN 978-3-88190-546-6